Paul Grilley – Eine Handvoll! Vier Mythen und eine Wahrheit in der Yogaanatomie

Während des Yin Yoga Teacher Training mit Paul & Suzee Grilley in Mexico 2015, sprach Markus Giess mit Paul Grilley über Mythen der Yogaanatomie.

Paul & Suzee Grilley with Markus Henning Giess

Eine Wahrheit – Der sicherste Winkel des Beines für das Knie ist der 90 Grad Winkel, plus Flexion des Fußes!

M: Warum ist in der Taube, der 90 Grad Winkel des vorderen Beines, plus Flexion des Fußes, die sicherste Position für das Knie?

P: In einem anderen, engeren Winkel, des Unterschenkels zum Oberschenkel, berührt der kleine Zeh und/oder die Ferse den Boden so, dass der Unterschenkel in eine externe Rotation verdreht wird.

Der 90 Grad Winkel lässt, schon allein durch die Fußposition, die kleinste Torsion (Verdrehung) der Tibia (Unterschenkel) zu und ist somit die stabilste Position für das Knie.

Allerdings darf man nicht vergessen, dass ein 90 Grad Winkel zu einer maximalen externen Rotation im Hüftgelenk führt.

M: Würdest du sagen, die Flexion des Fußes, stabilisiert das Knie?

P: Ja, exakt. Mit der Flexion des Fußes kämpfen wir gegen die Verdrehung des Knies oder besser gesagt, die Außenrotation des Unterschenkels an, die manche Praktizierende als unangenehm empfinden.

1. Anmerkung M.: Trotz Stabilisierung des Knies durch die Flexion des Fußes, sollten wir darauf achten, nicht zu viel Gewicht auf das Knie zu bringen, im Besonderen, wenn wir wissen, dass wir nicht genug externe Rotation im Oberschenkel (Hüftgelenk) haben, um angenehm in Schwan, Taube, Square Pose, Lotus, Schneidersitz etc. zu sitzen. Ist aus knochenbautechnischen Gründen nicht genügend externe Rotation vorhanden, würde es sich empfehlen, den Schwan oder die Taube, im Reh zu beginnen. Wir würden den Oberschenkel, das Knie und den Unterschenkel ablegen und den Fuß in Flexposition bringen. Erst dann würden wir die Hüfte „eindrehen“ (externe Rotation des vorderen Femurknochens), bis wir eine angenehme Glutdehnung (Podehnung) spüren. Die Stimulation, auf die es uns ankommt im funktionalen Yoga, ist perfekt, egal wie die Haltung letztendlich aussieht.

2. Anmerkung M.: Nach Paul Grilley sind die sichersten zwei Positionen für das Knie in Schwan oder Taube, entweder, den Unterschenkel des vorderen Beins, direkt unter uns zu bringen (keine Verdrehung) oder den Unterschenkel in einen 90 Grad Winkel aufzuklappen (minimalste Verdrehung).
Alle Positionen dazwischen führen zu einer größeren Verdrehung im Knie.

3. Anmerkung M.: Paul Grilley & David Keil haben in verschiedenen Statements darauf hingewiesen, dass der Praktizierende ausprobieren sollte, ob ihm eine Flexposition im Fuß hilft oder nicht. Beide gehen davon aus, dass, was dem Einen hilft, nicht unbedingt  für den Anderen gut sein muss. Paul untermauert das immer wieder sehr schön mit Tests des individuellen Knochenbaus, während seinen Ausbildungen und Statistiken, die er dabei erhebt, mit überraschenden Ergebnissen.


Mythos 1 – Hyperextension ist gefährlich im Yoga!

M: Was ist Hyperextension für dich und ist sie gefährlich im Yoga?

P: Hyperextension entsteht durch die Form der Knochen. Das ist das Wichtigste zu durchdenken, bevor man darüber spricht. Hyperextension ist nicht eine Deformation der Gelenke!

Dass hypermobile Personen mit ihren Gelenken etwas falsch gemacht haben und ihre Knochen deswegen so aussehen, ist eine der häufigen Annahmen von Menschen ohne Anatomiekenntnissen.

Das ist ein falsche Vorstellung!

Weder Personen die 1,50 Meter groß sind, noch Personen die 2 Meter groß sind, haben etwas falsch gemacht. Die Größe, wie auch die Hyperextension, wird durch die Knochen bestimmt.

Die Möglichkeit in Hyperextension zu gehen, kann nicht entwickelt werden, weder durch Intension, noch durch einen Unfall. In beiden Fällen würden entweder die Knochen brechen oder man würde sich die Gelenke ruinieren.

Merke: Hyperextension ist keine Deformation! Es ist eine normale Variation des Knochenbaus und normale Variation der Orientierung der Gelenke.

Im Yoga geht es darum herauszufinden und zu entscheiden, ob diese natürliche Variation des Knochenbaus (Hyperextension) gefährlich sein könnte oder nicht.  Und da gibt es viele verschiedene Meinungen!

Meine Meinung?
Bei Hyperextension, wäre es erst einmal wichtig zu fragen – „Ist Bewegung in der Asana Praxis involviert?“

Sobald Bewegung in der Asana Praxis involviert ist, wird es mehr Stress auf den Gelenken geben, als wenn keine Bewegung involviert ist.  

Eine Person kann jederzeit in Seelöwenpose seine Arme strecken, aber er würde wahrscheinlich nicht auf gestreckte Arme fallen wollen, weil der Stress um ein Vielfaches größer wäre.

Und, das ist die einfache Wahrheit für jedes Gelenk.

Wir müssen den Unterschied erkennen lernen und Fragestellungen konkretisieren. Wenn wir über Hyperextension sprechen und ob es gefährlich sein kann, macht es einen großen Unterschied, ob wir Yin oder Yang Yoga praktizieren!

Yang Yoga – gewichtsbelastend, wiederholend, rhythmisch oder Yin Yoga – langsam, bis Stille.

Die zwei Konzeptionen sollte man unterscheiden können.

Noch einmal. Hyperextension ist keine Deformation. Hyperextension ist eine Variation des Knochenbaus.

Als Lehrer oder Schüler muss man jetzt überlegen, was gefährlich sein könnte, wenn diese Knochen so gebaut sind, in Verbindung mit einer Yin oder Yangpraxis.

Wie wirkt sich Hyperextension bei einer Yangpraxis mit Bewegung und Gewichtsbelastung und einer Yinpraxis ohne Bewegung und kaum Gewichtsbelastung aus?

Es ist möglich, dass ein Mensch mit Hyperextension im Knie, wenn er mit viel Gewichtsbelastung auf einem Bein steht, das Gefühl in der Kniekehle, nicht unbedingt mag.
Dieselbe Person könnte im Sitzen, bei einer Vorwärtsbeuge eine völlig andere Erfahrung machen. Es kann für diese Person vollständig in Ordnung sein, mit wenig Gewichtsbelastung und in Stille, in Hyperextension, zu sitzen.


Mythos 2 – Yin Yoga sollte immer kalt praktiziert werden!

M: Eine der Lieblingsfragen der Yin Yogis? Sollen wir warm oder kalt praktizieren? Sollen wir uns vorher aufwärmen oder nicht? Was passiert im Gewebe, wenn wir warm oder kalt praktizieren?

P: Für das Gewebe macht es nur am Anfang einen Unterschied.

Wenn eine Person sehr warm beginnt, wird sie 90 Minuten später gedehnt und entspannt sein.
Wenn eine andere Person sehr steif und kalt beginnt, wird sie 90 Minuten später ebenfalls gedehnt und in einem entspannten Zustand sein. Beide Personen haben am Ende der Praxis dieselbe Körpertemperatur.

Die ersten 10-15 Minuten macht die innere und äußere Temperatur einen Unterschied. Danach nicht mehr. Am Ende der Klasse angekommen, wird die Wirkung auf die Gewebe bei beiden gleich sein.

Aber natürlich wird es sich für die Studenten anders anfühlen, ob sie warm oder kalt anfangen und es wird, nach subjektivem Empfinden, verschiedene Präferenzen der Schüler geben.

Grundsätzlich ist die Frage zu umfangreich, um sie in 3 Sätzen zu beantworten.

Wenn wir warm praktizieren, kann es sein, dass wir einfach in die Pose fallen und dort bleiben, ohne viel Veränderung wahrzunehmen.

Wenn wir kalt praktizieren, kann es sein, dass wir beginnen und spüren „Oh, mein Rücken.... das habe ich ja noch nie gefühlt....“

Wenn wir kalt praktizieren, müssen wir warten, bis das Gewebe sich verändert, es anfängt zu schmelzen und wir können es hautnah miterleben und mitfühlen. Diese Veränderung mitzuerleben, führt die Aufmerksamkeit nach innen und führt dazu, den Energiewechsel im Körper zu spüren.

Selbst wenn nach 90 Minuten Praxis, Person 1 warm und Person 2 kalt, an demselben Punkt angekommen sind, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Person 2 den Energiewechsel in vielen Momenten sehr viel bewusster wahrgenommen hat. Und er wird wahrscheinlich schneller einen Sinn dafür entwickeln, mit bestimmten Verhaltensweisen, wie auch dem Spiel mit dem Atem, bestimmte Wirkungen zu erzielt. Person 2 kalt musste immer langsam und geduldig durch die Veränderungen arbeiten, während Person 1 warm das nicht musste.

Es gibt mehr Dinge zu bedenken, als die Frage wer mehr Dehnung erhalten wird und wie die Gewebe sich verändern.

4. Anmerkung von M: In Yin Yoga gibt es nur sehr wenige definitive Regeln wie man Yin Yoga praktiziert oder besser wie man richtig Yin Yoga praktiziert!

Wenn uns jemand die oben aufgeführte Frage stellt, „Sollen wir warm oder kalt praktizieren im Yin Yoga?“, dann empfiehlt es sich im Yin Yoga wie gute Wissenschaftler zu antworten mit den Worten:
„Es kommt darauf an!“

Es gibt physische, mentale und energetische Vorteile kalt zu praktizieren!
Es gibt physische, mentale und energetische Vorteile warm zu praktizieren!

Wer bin ich zu entscheiden, was richtig für Dich ist?
Wir können als gute Lehrer nur Vorschläge unterbreiten.

M: Macht Wärme und Kälte einen Unterschied für die Gelenke?

P: Nicht wirklich. Es ist schwierig, so eine Frage zu beantworten, wenn man die wahnsinnigen Unterschiede in Flexibilität im Allgemeinen berücksichtigen möchte.

Wenn ich ein Mensch aus „Gummi“ bin, dann kann ich ohne Aufwärmen weiter dehnen, als ein Mensch mit Aufwärmtraining.

Und wer weiter dehnt, wird seine Gelenke weiter „dehnen“ bzw. sich in seiner – „Range of Motion“ - bewegen.
 

Mythos 3 – Nach Vorwärtsbeugen, keine Rückwärtsbeugung!

M: Was sagst du zur Regel, nach Vorwärtsbeugen, keine Rückwärtsbeugung?

P: Was ist dann mit Sūrya Namaskāra? Jede Bewegung im Sonnengruß ist darauf ausgerichtet Vor- und Rückwärtsbeugen zu alternieren! Jedes Yogabuch vor 1975/1980 geschrieben, wies darauf hin, dass man als Praktizierender sicher gehen sollte, Vorwärts- und Rückwärtsbeugen zu alternieren, um nicht in eine der beiden Richtungen zu überdehnen.

Ich habe keine Ahnung, wann und warum sich diese Ansicht geändert hat!

Es gibt viele (Yoga) Anatomie Mythen, warum etwas richtig oder falsch, gesund oder ungesund ist.

Im Falle der Vorwärts- und Rückwärtsbeugen brauchen wir nur ins normale Leben zu schauen, um den Mythos zu entlarven.

Wenn ich meine Schuhe zubinde und wieder nach oben komme, habe ich eine Vorwärts- und eine Rückwärtsbeuge gemacht. Es geht nicht, dass ich meine Schuhe zubinde, ohne meinen Rücken in eine Rundung zu bringen, und sobald ich mich aufrichte, gehe ich natürlich wieder in eine Lordose im Rücken. Oder haben wir schon einmal erlebt, dass wir beim Schuhe zubinden uns überlegen: „Hmmm, jetzt gehe ich mal besser nicht in eine Rückbeuge!“ (beide lachen)

Das ist Nonsens.

M: Gibt es mehr Yogaanatomie Mythen, mehr Dinge die keinen wirklichen Sinn machen, also Nonsens sind?

P: Tatsächlich gibt es sehr viele Aussagen im Yoga, die ganz klare Inkonsistenzen aufweisen.


Mythos 4 – Das Knie muss direkt über dem Fußgelenk ausgerichtet sein! (z.B. Krieger)

M: Kannst Du uns ein Beispiel geben? Wie z.B. Knie über Fußgelenk?

P: Ja genau. Knie über Fußgelenk ist ein gutes Beispiel. Jedes Mal wenn Du die Treppe hoch- oder runterläufst, musst Du das Knie weit über den Fuß bringen, um den Körper auszubalancieren.

Viele Lehrer reden darüber, wie gesund es ist, in die Sitzhocke zu gehen, was seine Berechtigung hat. In der Sitzhocke aber müssen die Knie über die Fußgelenke hinausragen, damit wir die Balance behalten.

Im normalen Leben, muss das Knie über den Fuß hinausragen!
Das ist in der Natur, der Statik des Körperbaus so vorgesehen!

Die Regel oder Ausrichtung „Knie über Fußgelenk“ ist im Yoga inkonsistent, wenn wir in manchen Asanas diese Regel einhalten (z.B. Krieger) und in anderen nicht (z.B. Sitzhocke). Im Besonderen wird diese Regel oder Ausrichtung im höchsten Maße unlogisch, wenn das Alltagsleben uns zeigt, dass wir uns als Menschen mit dieser Regel nicht fortbewegen könnten (Treppen steigen, gehen, joggen) oder gar umfallen würden beim Aufheben eines Gegenstandes (Kniebeuge).

Versuche einmal als Selbsttest zu joggen, ohne die Knie über die Füße bzw. weit über das Gelenk zu bringen. Oder versuche etwas aufzuheben, ohne, bei der dafür notwendigen Kniebeuge, die Knie weit über die Füße zu bringen. Viel Spaß!

Wir können unser Leben nicht leben, ohne unsere Knie immer wieder über die Fußgelenke zu bringen, z.B. beim Gehen über den Mittelfuß oder je nach Knochenbau und Proportionen beim Treppen steigen bis weit über die Zehen hinaus.

Wenn unser Yoga darauf ausgerichtet sein soll, uns im normalen Leben zu unterstützen z.B. durch Muskelstärkung und Gewebedehnung, dann erscheint es sinnvoll, alltägliche Handlungen, z.B. Knie über Fußgelenke zu bringen, in einer kontrollierten Asana und in einer geschützten Umgebung zu üben und zu praktizieren.

Dann wird Yoga uns im Alltag durch mehr gewonnene Kraft und Stabilität helfen.

M: Wo kommen diese Mythen – z.B. „Knie direkt über Fußgelenk ausrichten“ her?

(schmunzelt) Wahrscheinlich von einer Person, die eine Aussage über Olympische Gewichtheber getroffen hatte. Bei Gewichthebern die in eine schnelle Sitzhocke kommen und danach 200 Kilo über den Kopf stemmen müssen, mag es absolut schlecht oder verletzend sein, die Knie nicht über die Gelenke zu bringen!

Normalerweise, so zeigt es die Vergangenheit, werden diese Aussagen dann in Korrelation zu anderen Sportarten gebracht und eine allgemeine Empfehlung ausgesprochen.

5. Anmerkung von M: Sportmedizin hatte einen sehr großen Einfluss auf Yoga in den letzten Jahrzehnten. Empfehlungen aus der Sportmedizin werden sehr ernst genommen, aber nicht immer folgerichtig auf Yoga übertragen!

Inkonsistenzen gibt es auch in der Yogaliteratur. In manchen Yogabüchern werden wir die Knie über den Fußgelenken finden und in anderen Yogabüchern werden sie weit über dem Mittelfuß abgebildet sein. Es gibt also keine Allgemeingültigkeit oder allgemeingültige Aussagen denen wir folgen können.

Es wird immer diese Mythen geben und sie werden mehr werden! Warum? Weil es heute mehr Menschen gibt die Yoga praktizieren als früher. All diese Menschen bringen ihre Mythen, ihre Folklore und ihre Anekdoten mit, die sie vielleicht nie hinterfragt haben.

Hier wir uns die Wissenschaft mehr und mehr aushelfen. Die Folklore und Mythen werden auf ihre Wahrhaftigkeit untersucht und eine nach der Anderen wird sich auflösen. Deswegen benutzen wir Tests im Unterricht.

M: Ja das liebe ich sehr die wissenschaftliche Herangehensweise und Statistiken in Deinen Ausbildungen.

P: Ja, ich liebe die wissenschaftliche Herangehensweise auch. (beide lachen)

M: Vielen Dank Paul für deine Zeit und für das Interview.

Für mehr Informationen über Paul & Suzee Grilleys Yin Yoga & Anatomie Ausbildungsplan:   www.paulgrilley.com

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